Jonathan Haidt – einflussreicher US Sozialpsychologe, Professor an der New York University und Mitglied der American Academy of Arts and Sciences – veröffentlichte 2024 den Bestseller „The Anxious Generation: How the Great Rewiring of Childhood is Causing an Epidemic of Mental Illness“ (auf Deutsch: „Generation Angst: Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“).

Die Generation Z bezeichnet jene Teile der Bevölkerung, die zwischen 1995 und 2010 geboren wurden. Generationen unterscheiden sich nicht nur durch im Kindesalter erlebte Erlebnisse (wie Kriege und wirtschaftliche Krisen) sondern auch im Erleben technologischer Veränderungen (Radio, Fernsehen, PC, Internet, Smartphone).

Die ältesten Vertreter der Generation Z kamen um 2009 in die Pubertät, als mehrere Tech-Trends zusammenliefen: die rasche Verbreitung von schnellem Breitbandnetz in den 2000er-Jahren, die Einführung des iPhone 2007 und das neu Zeitalter hyperviraler sozialer Medien.

Die Bestückung von Frontkameras bei den Smartphones 2020 sowie die Übernahme von Instagram durch Facebook 2012 führt zu einem weiteren Trend (vor allem bei den Mädchen): das Posten von Selfies

Generation Z wurde die erste Generation in der Geschichte, die ihre Pubertät mit einem Portal in der Tasche durchlebte, das sie fort von den Menschen um sie herum in ein alternatives Universum rief, das aufregend, suchterzeugend, instabil und – wie ich zeigen werde – für Kinder und Heranwachsende ungeeignet war.

Teenager der Generation Z investierten immer mehr Zeit, virtuell die Akzeptanz Gleichaltriger zu gewinnen (Jonathan Haidt bezeichnet das als Sauerstoff der Adoleszenz) und Online-Shaming zu vermeiden (Jonathan Haidt nennt dies Albtraum der Adoleszenz).

Sie schauten sich eine ständig wachsende Zahl von hochgeladenen Videos an uns streamten Unterhaltung, die ihnen von Autoplay und Algorithmen angeboten wurde, gezielt so konstruiert, dass sie so lange wie möglich online blieben. Sie verwendeten weitaus weniger Zeit darauf, mit Freunden und Familienmitgliedern zu spielen, sich mit anderen zu unterhalten, sie zu berühren oder auch nur Augenkontakt mit ihnen aufzunehmen. Dadurch reduzierte sich ihr Anteil an körperlichen sozialen Verhaltensweisen, die für eine erfolgreiche menschliche Entwicklung unbedingt nötig sind.

Jonathan Haidt fasst die Veränderungen in der Nutzung der Technologien gepaart mit der katastrophalen Überbehütung vieler Kinder unter dem Begriff „Große Neuverdrahtung“ zusammen.

Um zu gedeihen, brauchen Kinder viel freies Spiel. […] Die kleinen Herausforderungen und Rückschläge, die während des Spiels auftreten, sind wie eine Impfung, die Kinder darauf vorbereitet, sich später viel größeren Herausforderungen zu stellen. […] Während unbeaufsichtigtes Spielen draußen immer stärker eingeschränkt wurde, wurden PCs immer häufiger und boten Kindern eine einladende Möglichkeit, ihre Freizeit zu Hause zu verbringen.

Jonathan Haidt zeichnet einen Übergang von der spielbasierten zur smartphonebasierten Kindheit in der physische und soziale Erfahrungen immer kürzer kamen, welche aber dringend notwendig waren, um grundlegende Kompetenzen zu erwerben, angeborene Kindheitsängste zu überwinden und sich auf einer geringere Abhängigkeit von den Eltern einzustellen.

Virtuelle Interaktionen mit Gleichaltrigen können diesen Erfahrungsverlust nicht völlig ausgleichen. Diejenigen, deren Freizeit und Sozialleben online ging, fanden sich überdies zunehmen in eigentlich Erwachsenen vorbehaltenen Räumen wieder, konsumierten Inhalte für Erwachsene und tauschten sich mit Erwachsenen in einer Weise aus, die für Minderjährige oft schädlich ist. Während Eltern also darauf bedacht waren, Risiko und Freiheit in der wirklichen Welt zu eliminieren, ließen sie ihren Kindern generell und oft, ohne sich dessen bewusst zu sein, volle Unabhängigkeit in der virtuellen Welt – zum Teil deshalb, weil die meisten Schwierigkeiten hatten zu verstehen, was da vor sich ging, womöglich gar nicht wussten, was sie einschränkten und wie sie das anstellen sollten.

Jonathan Haidts sieht die Hauptursachen für die ängstliche Generation Z in der Überbehütung in der wirklichen Welt (körperliche Interaktionen, synchrone Interaktionen, Eins-zu-eins-Kommunikation, Gemeinschaften deren Zugehörigkeit nicht ohne Weiteres erworben oder beendet werden können) und in der Unterbehütung in der virtuellen Welt (entkörperlichte Interaktionen, asynchrone Interaktionen, Eins-zu-mehreren-Kommunikationen, Gemeinschaften deren Zugehörigkeit ohne Schwierigkeit erworben oder beendet werden können) begründet.

Die These der ängstlichen Generation untermauert Jonathan Haidt im 3. Teil des Buches durch konkrete Forschungsergebnisse, die zeigen, dass eine smartphonebasierte Kindheit die kindliche Entwicklung in mehrfacher Hinsicht stört. Er beschreibt vier grundlegende Übel: Schlafmangel, soziale Deprivation, Fragmentierung der Aufmerksamkeit und Suchtverhalten.

Während wir als Gesellschaft mehr als ein Jahrhundert Erfahrung darin haben, die wirkliche Welt für Kinder sicherer zu machen (Sicherheitsgurte in den 1960ern, Kindersitze in den 1980ern, Altersverifikation beim Kauf von Zigaretten) versagen wir kläglich im Schutz unserer Kinder in der virtuellen Welt.

Folgende 4 Reformen, die kaum etwas kosten und im kollektiven Verbund ihre volle Wirkung entfalten, haben das Potential, die psychische Verfassung der Jugendlichen wesentlich zu verbessern:

  1. Kein Smartphone vor einem Alter von ca. 14 Jahren (zuvor am besten nur einfache Geräte mit einer begrenzten Anzahl von Apps und ohne Internetbrowser)
  2. Keine sozialen Medien vor dem 16. Lebensjahr (man bräuchte dazu im wesentlichen nur die ohnehin bestehenden Nutzungsbedingungen einhalten)
  3. Schulen ohne Smartphones (Verstauen der Geräte in Schließfächern oder Ähnlichem und Nutzung ausschließlich bei konkretem Bedarf im Unterricht)
  4. Weit mehr unüberwachtes Spiel und Unabhängigkeit in der Kindheit (Rückzug der Helikopter-Eltern – so entwickeln Kinder auf natürliche Weise soziale Fähigkeiten, überwinden ihre Ängste und wachsen zu selbstbewussten jungen Erwachsenen heran)

Angesichts der Tatsache, dass KI und räumliches Computing (wie Apples neue Vision-Pro-Brille) dabei sind, die virtuelle Welt noch weitaus immersiver und suchterzeugender zu gestalten, sollten wir lieber heute als morgen mit den Reformen beginnen.

Jonathan Haidt trifft es auf den Punkt. Doch wann wachen wir als Gesellschaft endlich auf?


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