Im 8-Punkte-Plan des Bildungsministeriums werden auch digitale Endgeräte für die Schülerinnen und Schüler (SuS.) der Schulstufe 6 und 7 angeschafft. Aus folgenden Gründen sehe ich das sehr kritisch.
1.) Es fehlt mir eine klare Zieldefinition, was damit bezweckt werden soll. Will man erreichen, dass die Schüler schneller oder mehr lernen? Ist das Ziel, dass es in ein paar Jahren mehr Programmierer und Informatiker gibt? Will man, dass alle Schülerinnen und Schüler Zugang zu einem digitalen Gerät haben? Geht es darum, die SuS. für gewisse Anwendungen auszubilden? Oder sollte damit der Weg geebnet werden, die „analoge“ Schulbuchaktion langfristig auslaufen zu lassen und auf eine digitale Schulbuchaktion umzusteigen?
Viele dieser Fragen bleiben unbeantwortet. Es bleibt der Eindruck, als diene die Digitalisierung dem Selbstzweck. Wofür wollen wir die Digitalisierung eigentlich nutzen? Natürlich wird von digitalen Kompetenzen gesprochen, aber auch diese sind nicht klar definiert und so breit, dass nicht klar hervorgeht, was damit genau gemeint ist. In der Broschüre für Erziehungsberechtigte werden zwar Argumente angeführt, aber sie sind wenig überzeugend, um jedem SuS. ein Gerät zur Verfügung zu stellen.
2.) Gäbe es eine klare und ausführliche Zieldefinition, hätten diese Ziele in den letzten Jahren entsprechend in einigen Pilotprojekten wissenschaftlich evaluiert werden können. So hätte das BM bereits vor mehreren Jahren 10 oder 15 Schulen mit unterschiedlichen Geräten ausstatten können und dort unabhängige wissenschaftliche Studien durchführen können, die als Entscheidungsgrundlage dienen hätten können. Laptopklassen gibt es ja schon lange, aber diese wurden fast ausschließlich in höheren Schulen eingeführt. Ich bezweifle, dass sich die dort gewonnen Erkenntnisse einfach auf die 10-12 jährigen übertragen lassen.
Es gibt zwar einige Studien, angefangen von der OECD- über die PISA-Studie 2015 bis zu John Hatties Meta-Studie „Visible Learning“ (www.visiblelearning.de) und diese sehen den regelmäßigen Computereinsatz sehr kritisch.
Weitere Beispiele: Gutachten Bildung 2030:
https://www.universitaetskolleg.uni-hamburg.de/media/pdf/arb-gutachten-gesamt-bildung2030.pdf und darin heißt es zum Beispiel auf Seite 78.
„Dabei zeigte sich im Hinblick auf kompetenzförderliche Effekte des Medieneinsatzes, dass SuS. in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt wurden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant niedrigere Kompetenzen aufwiesen als jene Schulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten.“
Oder
Oder
Die digitale Transformation der Gesellschaft – Zur Diskussion der digitalen Bildung aus nationaler und internationaler Sicht. (https://bildungsklick.de/fileadmin/user_upload/www.bildungsklick.de/Bilder/__Einzelne_Bilder/2020/04_2020/didacta_Publikation_Bildung_braucht_digitale_Kompetenz_Band2_20180703.pdf)
3.) Gäbe es Ziele und entsprechende Studien, wäre auch ein Mehrwert für die Schülerinnen und Schüler erkenn- und kommunizierbar. Und mit Mehrwert ist vor allem der Lernerfolg im allgemeinen gemeint. Die rasche Einführung ohne einem entsprechenden Pilotprojekt wirft auch viele Fragen auf, was Wartung, Aufwand, Schulwechsel, Repetieren, MDM… betrifft. Mit der gesammelten Erfahrung hätte man hier schon gute Antworten darauf geben können. Ähnliche Erfahrungen durften wir mit der Einführung von Sokrates machen, das als unfertiges Produkt an alle höheren Schulen ausgerollt wurde.
4.) Nicht nur die SuS., sondern auch die LuL. werden von einen der drei zur Auswahl stehenden IT-Konzerne abhängig gemacht und „angefixt“. Man nimmt ihnen die Möglichkeit auch über den Tellerrand alternativer und freier Angebote zu blicken. Warum wurde kein System mit einem freien Open Source System zur Auswahl angeboten? Die IT-Konzerne haben es mit Hilfe des BM geschafft, die Schulen für sich zu instrumentalisieren. Die LuL. übernehmen die Ausbildung der SuS. für ihr System.
(https://www.kuketz-blog.de/bildungswesen-entlarvung-der-haeufigsten-microsoft-mythen/
https://lernenwiedieprofis.ch/
https://www.heise.de/hintergrund/Schule-digital-Wie-der-Lock-In-Effekt-unsere-Schulen-beschraenkt-6006927.html
http://www.aufwach-s-en.de/2021/01/gemeinsame-stellungnahme-zur-verwendung-von-cloud-software-in-schulen/ )
Die Lobbyisten haben sich einmal mehr durchgesetzt. Sie lancieren Informationen in Medien und machen Stimmung für ihre Interessen. Und die Politik setzt deren Wünsche rasch um, schließlich wollen die Lobbygruppen auch Geräte verkaufen.
5.) Datenschutz und digitale Souveränität werden völlig außer Acht gelassen. Die Konzerne sind erfreut, künftig bereits eine sehr junge Klientel langfristig an sich binden zu können und von den generierten Daten der SuS. entsprechende Profile und Profite erzeugen zu können. Die DSGVO und der juristische Aspekt ist hier komplett ausgeblendet worden und ich wage zu bezweifeln, dass das Übermitteln jeder besuchten Webseite wie unter https://www.kuketz-blog.de/microsoft-edge-datensendeverhalten-desktop-version-browser-check-teil4/ beschrieben im Sinne der SuS. ist. Für die Verwaltung der Geräte, die einem SuS. zugeordnet sind, wurden ja entsprechende Accounts z.B. in der Microsoft/Google-Cloud erstellt. Einige deutsche Bundesländer haben die Nutzung amerikanischer Clouddienste an Schulen aus datenschutzrechtlichen Gründen untersagt. In Österreich wird das ganz einfach ignoriert.
(https://www.sueddeutsche.de/bildung/schule-datenschutz-1.4979575
https://bildung.thueringen.de/schule/medien/datenschutz-in-schulen)
Weiters ist nicht geklärt, ob und wie viele Daten aus der Cloud abfließen, um zu anderen als schulischen Zwecken genutzt zu werden. Dass alle Konzerne ständig behauptet “wir nehmen den Datenschutz sehr ernst”, wissen wir. Dass diese Aussage nicht immer der Wahrheit entsprechen, wurde aber immer wieder bewiesen.
https://www.kuketz-blog.de/kommentar-datenschutz-bei-microsoft-teams/ )
Aktuelle Zeitungsberichte legen den Missbrauch ja nahe:
https://www.derstandard.at/story/2000129441023/apples-broeckelnde-privacy-fassade
Sprachassistent: US-Klagen werfen Apple und Google vor, Kunden unerlaubt zuzuhören https://www.derstandard.at/story/2000129383969/sprachassistentus-klagen-werfen-apple-und-google-vor-kunden-zuzuhoeren-wenn
Eine aktueller Film „Made to measure“ beantwortet die Frage“Ist es möglich, alleine anhand der persönlichen Google-Daten einer Person ihre Doppelgängerin zu erschaffen? Ihre Persönlichkeit, Verhaltensmuster und verborgenen Wünsche zu rekonstruieren?“ (Webseite: https://www.madetomeasure.online/de/, Film)
Apple, Google, Microsoft und Co werden die Daten der SuS. nützen, um Ihre Profite zu maximieren, um ihren Einfluss weiter zu erhöhen. Alle haben mittlerweile ein System, das nicht nur Verhalten protokolliert, sondern auch in eine gewünschte Richtung steuert, wie man im Film „Made to measure“ hören kann. Dem wird langfristig eine Demokratie auch nicht standhalten können. Einmal mehr stellt sich die Frage „Warum werden und wurden keine freien Open Source Alternativen angeboten?“
6.) Neben dem Datenschutzaspekt könnte man auch so manche ethische bzw. moralische Gründe haben, um die Geräte nicht mit einem Betriebssystem amerikanischer IT-Konzerne auszustatten.
Laut einem NY-Timesbericht liegen die iCloud Daten der Chinesen in China, auf die auch die Chinesische Regierung Zugriff hat. Weiters unterstützt Apple die Regierung bei Zensurmaßnahmen im Chinesischen-Appstore. Die aktuellen Entwicklungen deuten auch darauf hin, dass Apple interesse an der Totalüberwachung der iPhone/iPad Kunden hat – Stichwort iPhone-Scanning und Kinderpornos. Edward Snowden bezeichnet das als „Apple erklärt der Privatsphäre den Krieg“. (https://www.derstandard.at/story/2000129441023/apples-broeckelnde-privacy-fassade)
Und kurz vor der Wahl in Russland, haben Apple/Google eine App des Regierungsgegners Navalny gelöscht. (https://www.theguardian.com/world/2021/sep/17/apple-and-google-accused-of-political-censorship-over-alexei-navalny-app)
2019 hat Microsoft einen 12-Mrd. Deal mit dem Pentagon abgeschlossen, der nach aktuellen Angaben zwar hinfällig ist. Heuer hat Microsoft einen 22-Milliarden Deal mit dem US-Militär abgeschlossen. (https://www.derstandard.at/story/2000125524349/microsoft-stattet-us-militaer-mit-ar-headsets-um-22-milliarden
Über die Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern – Stichwort Foxconn kann man z.B. im Buch „Was Bits und Bäume verbindet – Digitalisierung nachhaltig gestalten“ nachlesen. Klar ist, dass ein Teil der Gewinne auf Kosten der Arbeiter erzielt wird. So gelang es Apple im Jahr 2010 außergewöhnliche 58,5 Prozent des Verkaufspreises des iPhones als Gewinn zu verzeichnen.
Dass die Konzerne nicht gerne Steuern zahlen, ist bekannt. Der Standard berichtet im Jahr 2017 von 45 Mrd. Euro, die sich Microsoft in nur 2 Jahren erspart haben soll. (https://www.derstandard.at/story/2000063009478/microsoft-soll-sich-45-milliarden-dollar-an-steuern-erspart-haben)
Im Zeitraum zwischen 2010 und 2019 haben die sogenannten Silicon Six gut 100 Milliarden Dollar an Steuern vermieden, berichtet die Fair Tax Mark. (https://t3n.de/news/steuervermeidung-amazon-apple-1229795/)
Auch Pegasus hat gezeigt, dass den Versprechungen nach nur Terroristen abgehört werden. Mittlerweile ist bekannt, dass die Software auch gegen Journalisten und Kritiker eingesetzt wurde.
6.) Die gesundheitlichen Auswirkungen dieser Maßnahme ist auch noch nicht klar. Oberösterreichs Kinderärzte warnen vor einer Epidemie der Übergewichtigen. (https://www.nachrichten.at/meine-welt/gesundheit/viel-gewicht-wenig-bewegung-dicker-von-generation-zu-generation;art114,3455228) Ist das Sehen auf Bildschirme und Displays schädlich für die Augen Ihres Kindes? (https://www.sehen.de/sehen/kind-und-sehen/digitales-sehen-bei-kindern-und-jugendlichen/ oder https://www.br.de/nachrichten/wissen/zu-viel-zeit-mit-dem-smartphone-ist-schlecht-fuer-kinderaugen,R4BnXqO)
Abschließend kann ich sagen, dass ich mittlerweile immer öfter damit hadere, ministerielle Vorgaben im IT-Bereich umsetzen zu müssen, die ich zuhause meinen Kindern aus genannten Gründen verbiete.
Ich denke, der Klimaschutz ist im Moment die wichtigste Herausforderung für uns alle. Aber je länger ich über die genannten Aspekte nachdenke, desto eher komme ich zu dem Schluss, dass nach dem Klimaschutz der Datenschutz das wichtigste ist, da wir sonst die Demokratie immer mehr aufs Spiel setzen. Wir, die wir die künftigen Generationen bilden und lehren sind dafür mitverantwortlich und dürfen nicht sehenden Auges zulassen, wie die Freiheit – als kostbarster Teil des Menschen, immer weiter ausgehöhlt und verloren geht.
Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich sage, alles, was ich tue, jedes Gespräch, jeder Ausdruck von Kreativität, Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird. (…) Ich denke, jeder, der eine solche Welt ablehnt, hat die Verpflichtung, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu handeln.
Edward Snowden
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
3 Kommentare
tom · 22.09.2021 um 00:02
Danke das du das alles was auch ich mir so denke so schön und umfangreich ausformuliert hast!
Willi · 22.09.2021 um 09:56
Vielen Dank für diesen Beitrag! Mehrere der Punkte die hier angeführt sind waren Beweggründe für mich Informatiklehrer zu werden. Den Artikel zu lesen hat meine Motivation gestärkt – Danke dafür!
Rene Schwarzinger · 22.09.2021 um 21:27
Vortrefflich formuliert!
Bildung wird nicht per se besser, nur weil deren Vermittlung auf einmal digital unterstützt wird.
Es ist natürlich wichtig, dass alle Kinder – auch jene aus sozial schlechter gestellten Haushalten – mit digitalen Endgeräten ausgestattet sind. Die Covid-Krise hat dies auch eindrucksvoll vor Augen geführt.
Es ist aber mindestens so wichtig, dass die Kinder vorher / begleitend eine fundierte informationstechnologische Bildung an den Schulen erfahren – eine digitale Grundbildung integrativ in diversen Fächern vermittelt reicht hier leider nicht aus. Es braucht einen hochwertigen Informatik-Unterricht und einen verantwortungsvollen Umgang mit den Endgeräten in der Schule und zuhause: das gilt für Smartphone, Tablet, Laptop und PC gleichermaßen! Dazu gehört u.a. auch, die Geräte sparsam und zielführend einzusetzen.