Schule und Digitalisierung scheint heutzutage untrennbar miteinander verbunden zu sein. Doch bringt die Digitalisierung auch den erhofften Mehrwert oder entpuppt sie sich vielmehr als bildungspolitische Sackgasse (siehe z.B. Entwicklung in Schweden)?

Während Initiativen wie das neue Pflichtfach Digitale Grundbildung oder eine mögliche Aufwertung des Fachs Informatik in der Oberstufe zu begrüßen sind, so ist die Durchdringung anderer Fächer mit Computer/Tablet/Smartphone bereits in der Sekundarstufe 1 durchaus kritisch zu betrachten.

Hier spiegelt sich auch ein grundlegendes gesellschaftliches Problem: die Kinder und Jugendlichen nutzen bestimmte Technologie (z.B. Social Media) bereits in einem Alter wo einerseits der kompetente Umgang noch gar nicht geschult worden ist (das Fach Digitale Grundbildung liefert ja erst die dafür nötige Kompetenz) und andererseits auch die Nutzungsbedingungen selbst einen aktiven Umgang noch gar nicht vorsehen (z.B. WhatsApp ab 16 Jahren, ChatGPT ab 18 Jahren).

Um es auf den Punkt zu bringen:
Lernen über Medien muss VOR uneingeschränkter Nutzung von Medien erfolgen und der Medienkonsum an sich hat gerade in jungen Jahren so sparsam und zielgerichtet als möglich zu erfolgen!

Manfred Spitzer, Gehirnforscher in Deutschland, liefert noch eine Fülle mehr an Gründen, die gegen zu viel und zu frühem Bildschirmkonsum sprechen. Die Schlussfolgerungen seines Buches Digitale Demenz sollen hier aufbereitet werden.

Kinder haben keine Lobby

Kinder haben keine Stimme bei der Wahl, weswegen zwar viel über sie geredet, aber nichts wirklich für sie getan wird. Politiker denken darüber nach, was für die Banken und die Wirtschaft, was für den Mittelstand oder den Steuerzahler gut ist; was Kinder wirklich brauchen, ist ihnen jedoch im Grund ziemlich egal.

Manfred Spitzer, Digitale Demenz

Politik basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen?

Ich würde nicht so weit gehen der Politik das Interesse an den Kindern abzusprechen wie das bei Spitzer unter Umständen durchklingt. Aber es ist Fakt, dass Politiker oft nur oberflächlich von selbst ernannten Experten beraten werden bzw. es im derzeitigen politischen System schwer haben, gegen den (Meinungs-)Strom zu agieren.

[…] dass erwachsene gewählte Volksvertreter, denen die Bürger vertrauen und Verantwortung übertragen haben, nicht in der Lage sind, die Auswirkungen des Konsums digitaler Medien auch nur ansatzweise kritisch zu hinterfragen! Wir wissen aus sehr vielen guten wissenschaftlichen Studien, dass digitale Medien in Abhängigkeit von der Dosis (je mehr, desto mehr) und vom Lebensalter (je jünger, desto mehr) eindeutig schaden.

Manfred Spitzer, Digitale Demenz

Druck der medialen Berichterstattung auf die Politik

Selbst den engagiertesten Politikern fällt es schwer, für das Richtige einzutreten, wenn die Wiederwahl über allem steht.

Und wer glaubt, die Politik würde auf diese Desinformation reagieren, dem zeigt […], dass er auf dem Holzweg ist. Politiker sind von den Medien abhängig; wer sie sich zum Gegner macht, wird öffentlich vernichtet. Und genau deswegen geschieht nichts.

Manfred Spitzer, Digitale Demenz

Das liegt natürlich nahe, dass auch die (klassischen) Medien selbst einen reflektierteren Umgang mit sich bzw. mit moderne Medienformen entwickeln müssen. Die Zielgruppe der Kinder & Jugendlichen sind schutzbedürftiger als Erwachsene – das ist entwicklungspsychologisch eindeutig begründet.

Faktoren für bzw. gegen eine positive Hirnentwicklung

In folgender Grafik zeigt Spitzer anschaulich Faktoren, die günstig bzw. ungünstig für die Entwicklung des Gehirns in jungen Jahren wirken. Dabei gilt es zu beachten, dass eine positive Hirnentwicklung (begünstigt durch einen geringen Medienkonsum) auch eine spätere Demenz nach hinten verschiebt bzw. anfänglich abschwächt.

Medien als Suchtmittel

Spitzer vergleicht den gesellschaftlichen Umgang eines verfrühten und übermäßigen Medienkonsums mit klassischen Suchtmitteln, dessen Gefahren auf Jugendliche anfänglich auch oft unterschätzt wurden bzw. deren Lifestyle von diversen Lobbys schön geredet wurde.

Je früher der Alkoholkonsum beginnt, desto rascher entwickelt sich eine Sucht. Vor einigen Jahren wurden deswegen Alkopops durch entsprechende Steuern künstlich verteuert. Diese Maßnahme hatte nicht nur in Deutschland Erfolg. Sie funktionerte überall. Bei Zigaretten verhält es sich genauso: Sie zu verteuern reduziert die Zahl der durch Lungenkrebs verursachten Toten in der Bevölkerung.

Manfred Spitzer, Digitale Demenz

Wenn man sich erst einmal der schädlichen Auswirkungen zu frühen / zu vielen Medienkonsums im Jugendalter bewusst ist, würde man die Forderung nach einem möglichst zeitigen Einstieg im Bildungssystem wohl überdenken.

Die Verunsicherung nimmt gerade in jüngster Zeit enorm zu, weil immer mehr Kindergärten und Schulen Computer kaufen; und die damit verbundenen Probleme werden einem dann täglich vor Augen geführt. Wie es um die tatsächlichen Auswirkungen des Computers auf die schulischen Leistungen bestellt ist, haben wir ausführlich dargelegt. Wenn es überhaupt einen Effekt gibt, dann ist dieser negativ.

Manfred Spitzer, Digitale Demenz

Ein Schritt zurück, zwei Schritte nach vor!

Ein zu früher und oft unbegleiteter Einstieg in neue Medien führt zu mehr unerwünschten als erwünschten Effekten. Medienbildung hat zuerst an Schulen zu erfolgen bevor die Kinder mit Smartphones beschenkt werden, die ungeahnte oft nicht altersgerechte Möglichkeiten eröffnen!

So wurde der Drogenkoffer [Anmerkung: ein Unterrichtsprojekt, Kindern bereits frühzeitig auf die Gefahren von Suchtmitten aufmerksam zu machen] wieder aus der Schule verbannt, denn er bewirkte das Gegenteil von dem, was er sollte.
Nicht anders ist das mit Computer und Internet in Kindergarten und Grundschule: Ihr Effekt wird in der Drogenszene als anfixen bezeichnet, womit ganz allgemein „Neugier wecken“ gemeint ist, im Drogemilieu jedoch speziell das Überreden von jemanden, der noch kein Rauschgift genommen hat, sich zum ersten Mal eine Droge zu injizieren. Wer in jungen Jahren schon mit den digitalen Medien in Kontakt kommt, lernt auch mit großer Wahrscheinlichkeit schon sehr früh, wie und wo man an all die verbotenen oder zumindest von den Eltern unerwünschten Inhalten kommt.

Manfred Spitzer, Digitale Demenz

Die Metapher des Drogendealer-Modells sollte dem geschulten Leser übrigens schon bekannt sein – siehe frühe Kundenbindung großer IT-Konzerne an den Schulen (OSOS Austria hat darüber bereits mehrfach kritisch berichtet):

https://www.kuketz-blog.de/bildungswesen-entlarvung-der-haeufigsten-microsoft-mythen/

Fazit

Abschließend möchte ich meine Zusammenfassung mit folgendem Zitat beenden, welches sehr schön auf die oberflächlichen IT-Skills der so genannten Digitale Natives hinweist:

Das Irreführende am Begriff der Medienkompetenz ist zudem, dass man zur Nutzung des Computers oder des Internets nicht irgendeine Spezialfähigkeit benötigt (sieht man von ein paar Mausklicks und der oberflächlichen Kenntnis von Anwendersoftware ab, die sich jeder innerhalb weniger Stunden aneignen kann). Man braucht vielmehr eine solide Grund- oder Allgemeinbildung. Wenn man diese erworben hat (nicht über Computer und Netz, denn man braucht sie schon zu deren Nutzung), dann kann man auch im Internet vieles finden und sich eingehend informieren. Wer jedoch (noch) nichts weiß, der wird durch digitale Medien auch nicht schlauer. Denn man braucht Vorwissen über ein Sachgebiet, um seine Kenntnisse zu vertiefen.

Manfred Spitzer, Digitale Demenz

Ausblick auf das Buch „Die Smartphone-EPIDEMIE“

Vorausschauend auf die nächste Buch-Rezension seien folgende 2 Thesen ebenfalls von Manfred Spitzer festgehalten:

Computer und Smartphones schaden der Bildung: Weder deutsche noch internationale Studien konnten bislang einen positiven Einfluss von Computer oder Internetanschluss auf das Lernen an Schulen nachweisen.

Manfred Spitzer, Die Smartphone-EPIDEMIE

Negative Auswirkungen sind hingegen klar nachgewiesen: Eine Analyse der PISA-Daten von mehr als 50 Ländern über zehn Jahre hinweg beispielsweise ergab: je mehr Geld in einem Land in digitale Infrastruktur (Computer, WLAN im Klassenzimmer) investiert wurde, desto eher haben sich die Leistungen der Schüler in diesem Land verschlechtert.

Manfred Spitzer, Die Smartphone-EPIDEMIE

Das Bildungssystem ist gut beraten, Entscheidungen für oder gegen Technologie im Klassenzimmer evidenzbasiert zu treffen (wie das auch in der Medizin bei der Einführung eines neuen Medikaments der Fall ist). Derzeit hat es jedoch den Anschein, dass die Einführung oft vor der Evaluierung geschieht bzw. überhaupt nie ernsthaft evaluiert wird.

JA zu einer fundierten technologischen Bildung unser Kinder & Jugendlichen in dafür extra vorgesehenen Unterrichtsfächern durch speziell geschulte Pädagogen. NEIN zu einer verfrühten Technikzentrierung in allen Lebensbereichen ohne Belege für einen echten Mehrwert. Dieser möge dringend erbracht werden!


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