Silke Müller ist Schulleiterin einer niedersächsischen Oberschule, seit 2021 erste Digitalbotschafterin Deutschlands und Verfechterin einer ethischen und demokratischen Werteerziehung.

Nach einer anfänglichen Kritik, dass in Schulen Digitalisierung (Vermittlung grundlegender IT-Kenntnisse, Grundverständnis für KI, digitale Ethik) fahrlässigerweise oft noch mit Technisierung verwechelt wird, kommt sie sehr rasch auf das verrohende Miteinander, den fehlenden Willen, Verantwortung für andere oder gar eigenes Handeln zu übernehmen, zu sprechen:

Es ist eine – nicht zuletzt durch den Umgang in und mit sozialen Netzwerken – verloren gehende Empathie, auf deren Vermittlung wir aber doch gerade in der Erziehung unserer Kinder höchsten Wert legen müssten. Wert legen darauf, die Kinder und Jugendlichen zu verantwortungsvollen, selbstbewussten, vor allem aber empathischen Menschen zu erziehen, die befähigt sind, den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft mutig und entschlossen entgegenzutreten. In meinen Augen ignorieren und missachten wir als Erwachsene, gemessen an der Zeit, die wir und vor allem auch unsere Kinder in sozialen Netzwerken verbringen, diesen Auftrag jedoch zu großen Teilen.

Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder!, S: 27f

Doch es ist nicht nur die ausufernde Zeit, die unsere Kinder und Jugendlichen (und oft auch wir Erwachsene) in den sozialen Netzwerken verbringen und die dadurch im Umkehrschluss nicht für sinnvollere Tätigkeiten zur Verfügung steht. Es die nicht-kindgerechte Bandbreite an verfügbaren, teils grausamen Inhalten im Netz, mit denen unsere Kinder und Jugendlichen gewollt oder ungewollt konfrontiert sind!

Silke Müller gibt in ihrem Buch einen Überblick über reale Fälle mit denen sie als Schulleiterin konfrontiert war – es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass dies nicht auch genauso in jeder anderen (Österreichischen) Schule passieren kann oder bereits passiert ist.

  • Die Dickpic-Challenge (12-jähriges Mädchen gibt sich in Social Media Profil als 16 aus und bittet älteren Mann um Bild eines erigierten Penis | das Kind legt im Gespräch eine Gleichgültigkeit dar | der gesunde Umgang mit Intimität und Sexualität will aber nicht durch irgendwelche Challenges „gelernt“ sein)
  • Airdropping im Bus (über die Airdrop-Technologie ist es möglich, Inhalte von iPhones kabellos an umliegende Geräte zu verteilen | im konkreten Fall wurden scharfe, ungefilterte Videoaufnahmen geteilt, wie ein Mann mit einem Skalpell in einem Wohnraum schreiend ohne Narkose kastriert wird | solche Bilder wirken in der Seele und Psyche eines Kindes/Jugendlichen, nur leider negativ)
  • Sticker sind keine Aufkleber (Sticker sind oft animierte, größere Bilder in Messengern | im konkreten Fall wurden Sticker über WhatsApp verbreitet, die ein Mächchen auf pinker Bettwäsche zeigten, das offensichtlich penetriert/vergewaltigt wird | abgesehen vom abstoßenden Inhalt handelt es sich zudem um eine Form von Kinderpornografie, und zwar beim Weiterleiten als auch beim Empfang selbst)
  • Kennen Sie eigentlich das Video von den Welpen? (in Instagram kursierte ein Video, das erwachsene Männer zeigte, die Welpen zu Tode traten – ein anderes zeigte Hunde, die lebendig in kochendes Wasser geworfen werden – usw. | wollen wir eine Gesellschaft fördern, die derartige Videos mit Millionen Likes bewertet?)
  • Dinge, für die ich blowen würde (im Frühjahr 2022 ging der Trend in TikTok viral, erstrebenswerte Luxusgüter in Form von Kurzvideos mit der Überschrift „Dinge, für die ich blowen würde“ zu inszenieren | in einem konkreten Fall an der Schule ging es um ein 13-jähriges Mädchen, das sich 1 Gramm Marihuana von einem 14-jährigen Burschen via Blow-Job erkaufte | brauchen wir für solche Trends tatsächlich Plattformen wie TikTok?)
  • Hitler-Memes (auch in Österreich herrscht ein strenges Wiederbetätigungsgesetzt | verharmlosende Bilder die Zeit des Nationalsozialismus betreffend haben in einer modernen Gesellschaft nichts verloren | ein lächelnder Adolf Hitler mit den Worten „Du bist lustig. Dich vergas ich als Letztes.“ kann auch nicht durch die zeitliche Distanz zu den Geschehnissen legitimiert werden)
  • Er hat eine Bildschirmaufnahme gemacht, und jetzt kennt jeder dieses Video (ein 14-jähriges Mädchen hatte seit kurzem einen Freund mit dem sie sich abends in einem Videogespräch intim angenähert hat – dabei entstand ein Video, welches das Mädchen klar erkennbar bei der Masturbation zeigte | der Junge hatte das Video dann zugeschnitten, sodass nur mehr das Mädchen zu sehen war und dieses dann über Instagram und TikTok verbreitet | Ist es wirklich zu dulden, dass Kinder in ihrer noch jungen Sexualtität nur durch fiktive Altersgrenzen in den Nutzungsbedingungen der Social Media Tools geschützt werden?)
  • Aber das Foto ist wirklich nur persönlich für dich (hier ist die Fülle an Beispielen so groß und die Problematik so einsichtig, dass nur ein weiteres Mal darauf hingewiesen werden kann: was einmal im Netz ist, bleibt auch im Netz!)

Immer wieder fordert Silke Müller in ihrem Buch, dass sich Eltern für die Online-Aktivitäten Ihrer Kinder viel mehr interessieren müssen und dazu selbst Accounts in den Diensten ihrer Kinder anlegen sollen. Dem stimme ich einerseits zu und widerspreche zugleich: die Eltern haben auch die Pflicht, einen Social-Media freien Alltag vorzuleben! Dazu gehört genau das Gegenteil der Forderung von Silke Müller, nämlich sich von unnützen Social Media Tools zu befreien.

Im Detail gilt es dann natürlich auf das Alter der Kinder bzw. Jugendlichen zu achten. Von 10 – 14 braucht es kein Begleiten der Kinder in Social-Media Kanälen sondern einen wirksamen Jugendschutz, der für eine Einhaltung der Altersbeschränkungen in den Nutzungsbedindungen sorgt! WhatsApp darf beispielsweise erst ab 16 Jahren verwendet werden. Die meisten anderen Dienste sind in Österreich per Gesetz aber 14 Jahren zugelassen. KI-Dienste wie OpenGPT, Gemini oder Copilot sogar ab 18 Jahren. Das einfache Klicken auf Buttons mit der Beschriftung „Ich bin X Jahre alt“ stellt keinen Jugendschutz dar. Das Verteilen von Smartphones ohne Einschränkungen an 10-jährige ist im Grunde genommen verantwortungslos!

Erst ab 14/16/18 unterstütze ich die Forderung von Silke Müller, die Jugendlichen bei der Nutzung diverser Dienste über Eltern-Accounts zu begleiten. Denn hier reden wir von einem Alter wo die Nutzung eigentlich erst vorgesehen ist und auch zur geistigen Entwicklung der Kinder passt.

Den meisten ist nicht bekannt, dass sogar Silicon-Valley Größen wie Steve Jobs (gestorben 2011) oder Bill Gates ihren Kindern erst ab 14 Jahren ein mächtiges Smartphone gegeben haben. Warum? Weil sie sich im Gegensatz zu vielen IT-Laien der negativen Konsequenzen bewusst sind/waren, die eine verfrühte Smartphone-Nutzung auslösen kann (siehe auch Manfred Spitzer: Die Digitale Demenz oder Die Smartphone Epidemie).

Möchte man Jugendschutz nicht als Worthülse begreifen, braucht es dringend einen neu geregelten Zugang zu Smartphones für Kinder/Jugendliche! Entweder setzt man die Altersgrenze für den Bezug auf 14 Jahre oder reglementiert Funktionen altersabhängig (z.B. ab 10 Jahre nur Telefon, SMS, …).

MMag. Rene Schwarzinger (IT-Lehrkraft, IT-Manager)

Relativ am Ende des Buches schwenkt Silke Müller dann von einer negativen Haltung gegenüber eines Smartphone-Verbots zu eben dieser Ansicht über und bestätigt somit genau meine soeben aufgestellte Forderung:

Und hier verankert sich meine Überzeugung, dass es möglicherweise ein Ausweg sein könnte, Kinder bis 14 sukzessive auf die Gefahren im Netz vorzubereiten, sie resilient für den Umgang mit unangenehmen Bildern und Nachrichten zu machen, ihnen Strategien für einen souveränen Umgang mit sozialen Netzwerken zu vermitteln und sie die Fähigkeit des kritischen Denkens und Hinterfragens hinsichtlich Fake News und Deepfake entwickeln zu lassen, bevor sie einen uneingeschränkten Zugang zu der unkontrollierbaren Welt des Internets bekommen.
Ich meine damit nicht, dass Kinder und Jugendliche bis 14 gar nicht ins Internet sollten, das ist natürlich totaler Nonsens. Welche Gefahren im Netz auf sie zukommen, können wir den Kindern nicht einfach nur beschreiben, wir müssen sie ihnen zeigen, sie erfahrbar machen. Aber das eben in unserem Beisein.

Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder!, S: 179

Silke Müller führt auch gleich Beispiele an, die jedem einleuchtend erscheinen sollten und den späteren Einstieg in die Smartphone-Welt begründen:

Im Grunde müssten wir uns doch endlich mal selbst hinterfragen: Wir setzen Kindern schließlich auch kein Auto vor die Nase und sagen zu ihnen: „So, dann mal los, probier mal aus, wird schon gut gehen, gute Fahrt!“ Nein! Wir lassen Kindern teure Fahrstunden absolvieren, damit sie irgendwann nach erfolgreicher Prüfung umsichtige und vorausschauende Fahrer mit einer Mindestkompetenz im Straßenverkehr sind, die sich und andere nicht in Gefahr bringen.
Wir stellen Kindern kein ausgewachsenes Rennpferd auf die Weide, setzen sie nicht ohne Sattel darauf und sagen eben auch nicht „Jetzt galoppier mal los!“.
Wir bauen vielmehr Zäune um unsere Grundstücke und schütten Gartenteiche zu, damit dem Kleinkind nichts passiert, falls es einmal unbeobachtet ist.

Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder!, S: 179

Die Kinder und Jugendlichen können durch all den Hass, durch die Grausamkeit, Hetze und Brutalität, die sie im Netz zu sehen bekommen) verstört und in ihrer Entwicklung negativ beeinflusst sein. Sorgenvoll blickt die Autorin aber noch mehr auf die zu beobachtende Verrohung unserer Kinder und Jugendlichen:

Sie konsumieren gedankenlos, leiten teils strafbare Dinge gleichgültig weiter, ignorieren das im Grunde klare Signal, dass andere öffentlich gedemütigt oder gequält werden.
Es wächst eine Generation heran, die möglicherweise zu verroht ist, um echtes Mitgefühl zu empfinden, für die Empathie und Rücksicht, Toleranz und Respekt, Höflichkeit, Privatsphäre, Intimität und Selbstachtung vielleicht Fremdwörter bleiben.

Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder!, S: 209

Das beste Vorbild? Wir! WIR! „Erziehung ist Liebe und Beispiel, sonst nichts“ wusste schon Friedrich Fröbel (1782 – 1852, deutscher Pädagoge, Schüler von Pestalozzi). Jedoch haben es genau wir verabsäumt, diese Entwicklung im Netz positiv zu steuern. Im Gegenteil haben wir den Dingen ihren eigenen Lauf gelassen ohne einzugreifen!

Wie können wir ernsthaft über eine Schule der Zukunft diskutieren, über 21st Century Skills, also Fähigkeiten der Zukunft, ohne uns einzugestehen, dass wir dafür zunächst selbst diese Fähigkeiten wie kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Kollaboration erlernen und verinnerlichen müssen, um wirklich Beispiel geben und sein zu können?
Wir müssen uns endlich eingestehen, dass wir zumindest in der digitalen Welt die Werte eines friedvollen Miteinanders verloren haben.
Nie stand eine Generation wohl vor größeren Herausforderungen als die Generation unserer Kinder. Neben unserem Eingeständnis, dass wir es versäumt haben, den Weg für ein friedvolles Miteinander, für echte Kommunikation und sinnstiftende Verbindung zu ebnen, weil wir Hass, Brutalität, Verachtung, Intoleranz, Respektlosigkeit, Hetze, Demütigung und Grausamkeit eine viel zu große Bühne gelassen haben, müssen wir uns fragen was für eine Welt wir den Kindern bloß hinterlassen.

Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder!, S: 211

Neben einer erhöhten digitalen Kompetenz von uns Erwachsenen braucht es vor allem für die 10 bis 14-jährigen eine kompetente Begleitung im Rahmen der schulischen Bildung. Das Fach Digitale Grundbildung in Österreich ist ein erster Meilenstein, um hier positiv zu wirken. Gleichzeitig möchte ich hier die Forderung erheben, dieses Fach mit jener Wertigkeit auszustatten, die es braucht, um die digitalen Kompetenzen auch nachhaltig vermitteln zu können. Das ist mit einem 1-1-1-1 in der Stundentafel in der Sekundarstufe I (d.h. eine Wochenstunde pro Jahrgang) kaum bzw. nicht möglich, da zu wenig Raum für Wiederholungen im Sinne eines nachhaltigen Spiralcurriculums gegeben ist.

Daher mein APPELL: Zuerst eine nachhaltige Vermittlung von IT-Kompetenzen in der Schule unter Berücksichtung ausreichender Ressourcen und erst danach die Bereitstellung persönlicher Devices mit all ihren Möglichkeiten!

MMag. Rene Schwarzinger (IT-Lehrkraft, IT-Manager)

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